„Führen“ oder „Fühlen“? — Gedanken zum guten Gespräch

Diesem Thema konnten wir nicht ausweichen. Vor dem Shutdown des öffentlichen Lebens haben wir uns regelmäßig zum „Philosophischen Nachtcafé“ getroffen, um im Anschluss an einen Impulsvortrag miteinander zu diskutieren. Nicht immer war der Gesprächsverlauf in den Kleingruppen für alle Teilnehmer in gleichem Maße angenehm, störungsfrei und interessant. Aber insgesamt hat sich eine Diskussionskultur etabliert, dank der man sich auf die Begegnungen und Anregungen beim nächsten Treffen freuen konnte. Im Philosophischen Nachtcafé wurden gute Gespräche geführt.
Welche Voraussetzungen müssen für ein gutes Gespräch (evtl. auch online) erfüllt sein?
In dieser Flaschenpost möchte ich mich auf zwei Aspekte beschränken und Sie dann nach Ihrer Meinung fragen, wie Sie deren Beitrag zum Gelingen eines Gesprächs einschätzen.
Wenn wir miteinander sprechen, dann geht es nicht nur um die Sache, die unser Thema ausmacht. Im Gespräch verraten wir auch, in welcher Beziehung wir zueinander stehen, was wir voneinander erwarten und in welcher Verfassungen wir uns selbst befinden. Häufig bemerken wir dies auch selbst erst im und durch das Gespräch. Insofern erfahren wir offensichtliche und versteckte Informationen über den Anderen, die Sache, uns und unser zwischenmenschliches Verhältnis. Das gilt nun für jedes Gespräch, auch für die weniger erfreulichen. Aber vielleicht machen diese Erkenntnisse den Wert eines Gesprächs aus. Dann könnte auch der anstrengende, der stockende, der kontroverse und sogar der abgebrochene Dialog ein gutes Gespräch abgeben. Kommt es darauf an, welche Erkenntnisse man aus dem Gespräch zieht?
Aber vielleicht liegt die Qualität eines Gesprächs nicht im Resultat, sondern in der Praxis: Im Gespräch tritt man in einen gemeinsamen Dialog. Demnach könnte der Schlüssel zum guten Gespräch im Miteinander und im Dialog liegen.
Wie das Gespräch verläuft, hängt maßgeblich von den Voraussetzungen für ein entstehendes Miteinander ab. Aus der Perspektive der Kommunikationstheorie lassen sich einige Bedingungen und Regeln benennen. Sie reichen von der Einstellung der Gesprächspartner über die Relevanz des Themas bis zu den Wünschen und Erwartungen, was aus dem Gespräch folgen soll. Man kann die Gesprächsteilnehmer dazu auffordern, dass sie günstige Rahmenbedingungen für das Gelingen des Gesprächs herstellen und dass sie sich an Gesprächsregeln halten. Kontrolle könnte der Erfolgsgarant sein. Dabei muss man allerdings alle Ebenen berücksichtigen: die Sache, die eigene Motivation, die Beziehung zum Anderen und das, was sich durch das Gespräch verändern soll. Es ist schon eine Kunst, all diese Aspekte miteinander zu einem stimmigen Ganzen zu vereinen. Regeln und Rahmenbedingungen könnten dabei helfen.
Aber stimmt der Ansatz überhaupt? Müssen wir ein Gespräch kontrollieren, damit es gelingt?
Jürgen Habermas fordert seit Beginn der 80erJahre alle Gesprächsteilnehmer auf, sich in den eigenen Aussagen an Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit zu orientieren. Er meint, das würde ausreichen, damit ein vernünftiges Miteinander möglich ist. Man kann Informationen aus einem Gespräch nutzen, um in einer Angelegenheit erfolgreich zu sein. Man kann Gesprächsteilnehmer dazu bringen, dass sie so denken und handeln, wie man es gerne hätte. Man kann sich mit einer angenehmen Plauderei die Zeit vertreiben und man kann seine eigene Bedeutung durch belehrende Besserwisserei aufblasen. Doch dies macht alles noch kein gutes Gespräch aus. Wenn die Teilnehmer die oben genannten vier Bedingungen erfüllen, dann denken sie nach Habermas nicht mehr strategisch, sondern vernünftig und rücksichtsvoll. Persönliche Nutzenerwartung, gesellschaftlicher Rang und drohende Sanktionen werden dann nicht mehr eingesetzt, um die anderen zu überzeugen. Die ideale Diskursgemeinschaft folgt seiner Meinung nach ausschließlich dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ und wünscht sich einen Konsens, den niemand vorab festgelegt hat. In dieser Gesprächsgemeinschaft herrscht ein vernünftiges Miteinander.

Der zweite Aspekt des guten Gesprächs, den wir hier betrachten wollen, betrifft das dialogische Sprechen. Sokrates war der Meister des Dialogs. Er war davon überzeugt, dass Bücher den menschlichen Geist verderben. Denn wer liest, was geschrieben steht, der hört auf, selbst zu denken. Einen Text zu lesen, bedeutet, bereits gedachten Gedanken nachzugehen. Ein Gedankengang meint aber nicht das Laufen auf eingetretenen Pfaden, sondern das Erkunden von Neuland. Gedanken wollen gedacht, nicht wiederholt werden. Im Dialog Sophistes, in dem Platon auch mit den Redekünstlern und Rhetoriktrainern abrechnet, wird Denken als Gespräch der Seele mit sich selbst definiert. Denken vollzieht sich im Gespräch. Der Logos entfaltet sich im Dia-log.
Aber war Sokrates nicht derjenige Weise, der von sich behauptete, er wisse, dass er nichts wisse? In den Gesprächen, die er vorzugsweise öffentlich mit der männlichen Jugend Athens führte, beschränkte er sich darauf, Fragen zu stellen. Er selbst verbreitete kein Wissen, sondern verwirrte seine Gesprächsteilnehmer lieber mit unablässigem Hinterfragen ihrer Aussagen, bis sie in irritierender Ratlosigkeit steckenblieben. Diese Verunsicherung schafft Offenheit für Neues. So finden die Gesprächspartner des Sokrates zu neuen Perspektiven, die Klarheit schaffen und wahre Erkenntnis ermöglichen. Diese Betrachtung führt uns zu unserem ersten Ergebnis zurück: Ein gutes Gespräch ermöglicht Erkenntnisse. Damit ist nun persönliches Wachstum durch Lebenserfahrung gemeint. Gut ist ein Gespräch, wenn wir am Ende (geistig) ein Anderer sind als zu Beginn.
Was ist die Voraussetzung für persönliches Wachstum durch das Gespräch?
Wer sich durch einen Dialog verändern will, der muss sich vom Gespräch ergreifen lassen, damit er erlebt, wie etwas mit ihm geschieht. Wer im Gespräch die Kontrolle behalten möchte, indem er es thematisch lenkt und im Ablauf strukturiert, der passt das Gespräch an seine Vorstellungen an. Damit ist die Chance für persönliches Wachstum verringert. Ein gutes Gespräch verlangt Offenheit, nicht das Befolgen von Regeln. Haben Sie also den Mut, die Führung abzugeben! Spielen Sie mit, beobachten Sie, was sich entwickelt, und ignorieren Sie dabei die Ratschläge der Kommunikationstrainer!
„Gut“ verdient ein Gespräch dann genannt zu werden, wenn es nicht nur „für etwas oder jemanden“ gut ist, sondern wenn wir zulassen, dass sich das erfüllt, was es eigentlich ausmacht: persönliches Wachstum und zwischenmenschliches Miteinander. Ein gutes Gespräch wird gefühlt — nicht geführt.

 


Leitfragen:
a) Persönliches Wachstum oder zwischenmenschliches Miteinander — was macht für Sie ein gutes Gespräch aus?
b) Muss man sich an Regeln halten, damit ein Gespräch gelingt?