Wollen Sie Wahrheit überwinden?
Beiträge der TeilnehmerInnen
nach Kerngedanken (interpretierend) geordnet
1. Wahrheit ist relativ zum Betrachter und muss/ kann deshalb nicht überwunden werden, weil man sich dann ja selbst überwinden müsste:
a) Das Wort überwinden löst bei mir eine Anstrengung aus, ich denke es ist ein langer oder kurzer individueller Prozess der Reflexion eines Menschen notwendig, um seine eigene Wahrheit zu finden. Es existiert keine allgemeine Wahrheit; die jetzige Situation bewältigt jeder anders….
Es ist ein lebenslanger und spannender Lebenslauf einer Persönlichkeit mit all seinen Höhen und Tiefen.
Anonym1
b) Um die Wahrheit zu überwinden müßte sie erst einmal vor mir stehen. Kann es Wahrheit im Allgemeinen überhaupt geben? Dabei muß ich zuallererst an Heisenberg denken und seiner Unschärferelation. Was es ist, entscheide ich. Wohl wissend, daß dies jeder tut. Es gibt also so viele Wahrheiten wie es Menschen gibt. Wenn dann aber meine Wahrheit vor mir steht muß ich sie nicht überwinden, dann kann ich sie annehmen. Würde ich das nicht tun, müßte ich an mir zweifeln.
Jürgen Dreher
c) Wenn ich etwas für erstrebenswert halte, dann die Enteignung des Begriffes „Wahrheit“ durch seine zweckbestimmte Verwendung interessensgeleiteter Sprecher (Wissenschaft, Politik, Medizin, Kirche u.a.).
Anonym4
Kommentar: Wahrheit – Zweifel - Glück als Irrweg sehe ich nur in Beziehung zu Religionen, Populismus, Sekten, Diktaturen, also bei allen, die ihre eigene Wahrheit als absolute und seligmachende Wahrheit anderen aufoktroyieren wollen, notfalls mit Sanktionen. Das erinnert mich an unsere momentane Situation in der SARS-CoV-2-Krise. Ist es wirklich notwendig, einen nicht zertifizierten Mundschutz zu tragen (der vor Wochen noch als unsinnig galt)? Wir haben keine gesicherten Beweise für die Wirksamkeit, nur Vermutungen. Trotzdem wird das Nichttragen sanktioniert. Darf ich in diesem Fall die Maßnahme, zu der ich gezwungen bin, trotzdem anzweifeln? Ich denke schon. Muss ich die Maßnahme befolgen (abgesehen von der Sanktionierung)? Ich denke schon, weil ich es auch nicht besser weiß.
Sylvia Kiesewetter
d) Was ist Wahrheit? Wenn Wahrheit die Übereinstimmung der Erkenntnis bzw. der Aussage mit ihrem Gegenstand ist, so hat eben dieser viele Facetten und kann von entsprechend vielen Seiten betrachtet werden, noch dazu mit der Unzulänglichkeit der (jeweils subjektiven!) menschlichen Sinne ;- )*, so dass mehrere „Wahrheiten“ – womöglich sich widersprechende – nebeneinander stehen könnten.
Anonym5
Kommentar: anregender Gedanke: mehrere Wahrheiten nebeneinander stehen zu lassen (siehe auch
3.3.b)
Hans-Joachim Puch
e) Wahrheit überwinden? Dazu müsste ich sie ja erst einmal kennen.
Es gibt so viele Wahrheiten wie Menschen. Wer will meine Wahrheit, meine persönliche Logik, mein persönliches Lebens-Bewältigungsmuster kennen bzw. beeinflussen, wenn nicht ich selbst?
Wer kennt seine individuelle Wahrheit, sein Muster, das Leben zu bewältigen? Sie ruhen tief im Unterbewusstsein, wo sie seit dem Kleinkindalter vergraben sind.
Karl Heinz Kremer
2. Wahrheit als das Verborgene, zum Zusammenhang von Wahrheit (an sich) und Wirklichkeit (für mich):
a)
Wirklichkeit…
ist immer nur das, was wir dafür halten.
ist immer nur so, wie wir sie gestalten.
ist immer nur dann, wenn wir sie wollen.
ist immer nur dort, wo wir sie festhalten.
Sylvia Kiesewetter
Kommentar:
Ich hatte den Eindruck, das Wahrheit mit Wirklichkeit verwechselt wird.
Wahrheit ist doch letztendlich auch eine Tatsache oder Begebenheit, die besteht.
Sie ist doch auch das Gegenteil von Lüge?
In den Naturwissenschaften und der Geschichte geht es immer um die Suche nach der Wahrheit.
Diese ändert sich fortlaufend mit dem Wissenszuwachs und hat uns in eine moderne Gesellschaft,
ohne Aberglauben und mit demokratische Strukturen , geführt - im besten Falle.
Annette
b) Würde man in der Erkenntnis, dass man die Wahrheit zu bestimmten Fragen nicht benennen kann, die Suche nach der Wahrheit gänzlich aufgeben, so würde man das Kind mit dem Bade ausschütten. Ich kenne viele Leute, die nicht nach der Wahrheit suchen, aber sehr weit von Ruhe und Seelenfrieden entfernt sind. Das Nicht-Suchen oder das „Überwinden“ der Wahrheit kann es also unmöglich sein, was einen zur ataraxia führt. Es ist wohl eher die Einsicht die Wahrheit jetzt nicht zu kennen und die Fähigkeit mit dieser Unsicherheit zu leben.
Peter
Kommentar:
Religionen beanspruchen für sich, die Wahrheit zu kennen, die uns zum Glück verhilft. Daran dürfen wir nicht zweifeln. Wir müssen glauben. Wenn nicht? Zuwiderhandeln wird sanktioniert mit Fegefeuer, Hölle, Wiedergeburt als niederes Lebewesen u.Ä. Trotzdem macht der Glaube viele Menschen glücklich. Sie wollen nicht zweifeln und nach neuen Wahrheiten suchen, sondern ihr Heil vorgeschrieben bekommen. Geht das überhaupt? Kann man wirklich nicht nach Wahrheit suchen oder Behauptungen anzweifeln? In Zeiten von Corona bestehen viele Gläubige auf ihr Recht, in den Gottesdienst oder die Moschee gehen zu können. Macht Glaube also doch glücklich? Kann Glaube trösten, weil wir die momentane Wahrheit, die unsere persönliche Freiheit und Würde beschneidet, schlecht ertragen können?
Sylvia Kiesewetter
c) Wahrheit ist für mich der grösste gemeinsame Nenner aller Sichtweisen unabhängig von Religion, Herkunft oder
Bildungsstand, den man als eigene Emotion als richtig bzw. universell gerecht empfindet.
Liddy
Kommentar:
Kann man aufoktroyierte Wahrheiten auf einer Messlatte von gut nach schlecht einordnen und sie sich nach Notwendigkeit aussuchen? Ich denke schon, dass der Mensch seines Seelenfriedens wegen oft den Weg des geringsten Widerstands geht und sich die für ihn momentan geeignetere Wahrheit zu eigen macht. Was ich nicht glaube ist, dass Wahrheit der größte gemeinsame Nenner aller Sichtweisen ist, also ein Kompromiss oder eine Übereinstimmung auf höchst möglichem Niveau. Das würde ja wieder bedeuten, dass es die eine Wahrheit doch gibt. Wie soll diese aussehen? Wer beweist diese Wahrheit durch feste Daten?
Sylvia Kiesewetter
d) Für mich war es, wiederum seinerzeit, eine wirklich beglückende Entdeckung im 'Schönen, Wahren, Guten und Einen' eine Referenz gefunden zu haben. Nicht im Sinne einer fixen Idee oder klaren Definition dessen, was wahr, bzw. was das Wahre ist, sondern als die Frage nach Bewahrheitung: Wie oder was nehme ich wahr? Wie oder was gebe ich wahr? Und: Was will sich als wahr zu erkennen geben?
Anonym8
e) Welche Wahrheit ist gemeint? Zum einen gibt es für mich die Wahrheit in Form von Fakten, Dingen, die ich im Sinne des Wortes begreifen, anfassen, sehen kann, mathematische Zusammenhänge (z.B. 1+1=2), alles, was auch wissenschaftlich nicht angezweifelt wird. Diese Wahrheit ist wohl kaum zu überwinden. Dann gibt es die Wahrheit in der Form der Wahrhaftigkeit, jemand sagt die Wahrheit, er spricht das aus, was er denkt, er ist ehrlich und vertrauenswürdig. Diese Wahrheit möchte ich nicht überwinden.
Die Wahrheit, um die es hier vielleicht geht, übersetze ich für mich mit Gewissheit. Diese Art der Wahrheit ist wohl für jeden Menschen individuell verschieden. Sie hat für mich mit Wissen zu tun, mit Informationen und Erfahrungen und Bildung, die einem Menschen (oft zufällig) zuteil werden. Dem entsprechend formt sich die individuelle Wahrheit. Meine persönlichen Gewissheiten sind heute ganz andere als in jungen Jahren. Mit den Erfahrungen des Lebens hat sie sich rückblickend stark verändert, häufig unmerklich schleichend, manchmal in großen Sprüngen. (...) [Ein Beispiel ist das] Managementseminar bei Professor Malik in St. Gallen. Der Einblick in die Kybernetik des Managements dort hat mein ganzes berufliches Leben und allgemein den Blick auf die Welt verändert, habe ich doch dort die Gewissheit erlangt, dass eben nicht (wie bei Ingenieuren häufig) alle Zusammenhänge berechenbar und linear zusammenhängend sind, sondern die Welt in beliebig komplexen Zusammenhängen verstanden werden muss. Damit verbunden war die Erkenntnis, dass man nie die "eine Wahrheit" der vollständigen Erkenntnis erreichen wird. Wir leben in Systemen, die labil, unübersehbar in ihrer Komplexität und kaum zu kontrollieren sind. Wie sehr labil die Systeme, wie auch immer man sie definiert, bei unvorhergesehenen Einflüssen von außen sind, zeigt die gegenwärtige "Krise". Das neue Gleichgewicht, welches sich nach der "Krise" einstellen wird, ist überhaupt nicht absehbar...
Nach all dem zuvor Gesagten kann ich sehr wohl das Streben nach der einen Wahrheit überwinden. Ich bin mir gewiss, dass es sie nicht gibt oder dass wir sie nicht erreichen können.
Kai
3.1 Wahrheit überwinden wir, indem wir sie durch eine bessere ersetzen:
a) Wahrheit verändert sich für mich durch neue Erkenntnisse, neue Erfahrungen, Beeinflussungen. Ich gehe durch den Park und sehe Müll, der neben dem Mülleimer liegt. Ich denke: „Können die Leute nicht ihren Müll in den Eimer werfen?“ Nach ein paar hundert Meter beobachte ich eine Krähe, die mit ihrem Schnabel den Müll aus dem Eimer wirft auf der Suche nach Fressbarem. Ich denke: „Ah! Es müssen gar keine Menschen gewesen sein, die den Müll neben den Eimer geworfen haben.“ Meine Wahrheit hat sich durch eine neue Erfahrung geändert. Aber was ist nun wahr? War beim ersten Eimer auch eine Krähe am Werk oder war es doch ein Mensch? Oder war es der Wind?
Sylvia Kiesewetter
b) In Glaubensfragen gibt es keine Wahrheiten, sondern nur den Glauben.
Anonym2
3.2 Wir überwinden die Wahrheit, um uns vor dem Irrtum zu schützen
a) Die Suche nach Wahrheit ist im Kern eine Frage des subjektiven Erkenntnisprozesses. Wenn die Suche nach Wahrheit nicht in Intoleranz und Dogmatismus enden soll, darf subjektive Erkenntnis nicht zu einer allgemeinverbindlichen Aussage über ein Objekt gemacht werden. Denn, der menschliche Erkenntnisprozess und das Objekt der Erkenntnis sind nicht identisch. Wir Menschen sollten uns deshalb der Grenzen unserer subjektiven Erkenntnis bewusst sein. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt ist eine Art von struktureller Skeptizismus, der die Ergebnisse des eigenen Erkenntnisprozesses und damit die Suche nach Wahrheit immer wieder auf das Neue in Frage stellt. Wir können uns zwar durch Erkenntnis der Wahrheit nähern, Gewissheit werden wir aber nie erreichen. Skeptizismus schützt uns damit vor einer blinden Wahrheitssuche.
Hans-Joachim Puch
3.3 Wahrheit überwinden, heißt sich von einer Illusion zu befreien
a) Wer nun aber im philosophischen Gedankenspiel nach absoluter Wahrheit sucht,
könnte verzweifeln. Es gibt sie nicht. Es beginnt schon damit, dass die Begriffe mit
denen man es zu tun hat, nicht definiert werden können, ohne sie einzuengen.
Begriffe wie Liebe, Freiheit, Freude usw. können nur umschrieben, nicht definiert
werden.
Vielleicht ist mit “Wahrheit überwinden“ gemeint, dass man, wie Michel de
Montaigne, sich bescheiden und gar nicht nach absoluter Wahrheit suchen soll.
Anonym6
b) Ich glaube es ist wichtig die verschiedenen Sichtweisen von "Wahrheit" nebeneinander stehen lassen zu können, erst dann kann Gelassenheit entstehen.
Anonym7
Kommentar:
4. Was wir als Wahrheit anerkennen liegt in unserer Freiheit. Wenn wir keine Wahrheit anerkennen, verlieren wir auch unsere Freiheit:
a) Wir können die Wahrheiten der anderen übernehmen oder unsere eigene bilden oder weiterentwickeln. Wir können uns von negativen und/oder positiven Wahrheiten lenken lassen. Fremde Wahrheiten zu übernehmen, heißt sich ihnen unterzuordnen, sie wie ein mathematisches Gesetz als absolute Wahrheit anzuerkennen. Kann der Mensch das überhaupt? Kann er seine Gedanken ausschalten? Kann er alles unterdrücken, was ihn sein Leben bisher gelehrt hat?
Sylvia Kiesewetter
5. Welterkenntnis (Wahrheit) und Selbsterkenntnis (gnothi seauton!) hängen zusammen, die Wahrheit betrifft uns und daran haben wir Interesse:
a) „Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buches“
Die Bemerkung des Philosophen ist meiner Meinung nach überhaupt nicht verwunderlich. Spiegelt es doch meine eigene Ansicht zum Leben wider.
Alles was wir im Außen erleben ist ein Spiegel unserer Selbst. Es reflektiert die verschiedensten Seins-Anteile in uns wider. Es lässt uns erkennen, was wir an uns lieben und welche Seiten noch zu den Schatten gehören. Es bringt eine fantastische Möglichkeit mit sich, an uns selbst zu wachsen und zu reifen. Grundvoraussetzung dafür ist die ehrliche Selbstreflexion, die Lust an persönlichem Wachstum und der Wille zur Veränderung - was ja letztendlich „Leben“ bedeutet.
Es ist also meine kleine Welt, die sich in der großen Welt wiederfindet und umgekehrt...
Damit erklärt sich für mich auch das Prinzip von Yin und Yang.
„Ich sage JA zum mir... Ich sage ja zum Leben“ :)
von einer Suchenden (die nebenbei sehr oft glücklich ist)
Kommentar:Ich finde dies inspirierend, weil das Individuum hier als Teil eines größeren Ganzen begriffen wird. Unser Leben bekommt Sinn, weil es nicht nur aus sich selbst heraus zu rechtfertigen ist. Mein Bedenken dabei: Bei diese Position braucht es aber die Fähigkeit zur Distanz und kritischen Reflexion, damit nicht die Gefahr besteht, sich selbst zum Nabel der Welt zu machen.
Hans-Joachim Puch
b) Ich denke, neben Fakten, die oftmals nicht differenziert werden müssen, wie z.B. 'Das Gras ist grün', gibt es die innere Wahrheit dessen, der gewahr wird. Diese gründet auf Erfahrungen. Die für wahr erklärten Aussagen Anderer - auch wenn es mehrere sind, die auf Konsens beruhen - sind ebenso wie die eigenen in Abstimmung mit der bestmöglichen Objektivität, dennoch subjektiv. Strebt man also nach Wahrheit tut gesunder Zweifel not, an den eigenen Bestimmt- und Begrenztheiten genauso wie an denen Anderer.
Anonym10
6. Wahrheit verpflichtet oder Pflicht zur Wahrheit? Es könnte sein, dass in der Wahrheit eine Pflicht enthalten ist, die uns verbietet, sich von ihr zu lösen:
a) Das Festhalten an der Wahrheit, um die man sich bemühen sollte, hat Konsequenzen:
Das Glück der inneren Ruhe kommt nicht aus dem stillgestellten Streben, sondern aus der Gewißheit an der Wahrheit zu partizipieren.
anonym3
Dr. Jens Wimmers
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